Zeiss-Sonderobjektive

Sonderobjektive von Zeiss Jena

Im Einleitungstext zu den Jenaer Objektiven der 1980er Jahre habe ich beklagt, daß Neu- und Weiterentwicklungen im Bereich photographischer Objektive zwar stattgefunden haben, aber nicht produziert worden sind. Namentlich Eberhard Dietzsch hätte mit seinen Arbeiten zu Floating-Elements und Innenfokussierung für ein Aufholen zum internationalen Stand der Technik sorgen können. Aber daraus wurde nichts.

Geräuscharme Spiegelreflexkamera GSK

GSK Geräuscharme Spiegelreflexkamera. Für das Ministerium für Staatssicherheit entwickelte der VEB Pentacon Dresden diese motorgetriebene Reflexkamera mit feststehendem Folienspiegel und Belichtungsautomatik. In einer Aktentasche untergebracht, benötigte sie nur eine kleine Öffnung, um unbemerkt Aufnahmen anfertigen zu können. Dafür bedurfte es dieser Sonderobjektive. Aufnahme: Detlev Vreisleben

Um so erstaunlicher sind die Erkenntnisse, wenn man sich mit der übrigen Patentüberlieferung dieses Fachmannes beschäftigt. Hier ist von "Hochauflösenden System[en] mit veränderlicher Vergrößerung und großer Übertragungslänge" [DD301.996 vom 29. Mai 1986] und "Optische[n] Weitwinkelsystem[en] zur Aufzeichnung von Informationen aus dem Inneren eines abgeschlossenen Raumes" [DD275.328 vom 2. September 1988 und DD248.889 vom 26. März 1986] die Rede. Es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, für welche Zwecke derlei hochkomplexe und hochspezialisierte optische Systeme geschaffen wurden.

Seit längerem jedoch ist kein Geheimnis mehr, wofür die oben abgebildeten Optiken gedacht waren: Zur Observation durch enge Öffnungen hindurch. Auf eine eingebaute Blende wurde verzichtet – bei Bedarf wurde eine Irisblende aufgesteckt. Beim Objektiv ganz links handelt es sich übrigens um das herkömmliche Sonnar 3,5/135, das offenbar der Serienfertigung entnommen wurde (weshalb es auch zeitgenössisch mehrschichtvergütet ist). Das Sonderobjektiv in der Mitte ist ein Tessar 3,5/75 mm, das allerdings optisch nicht identisch mit dem bekannten Normalobjektiv für 6x6-Kameras ist, sondern speziell für die Geheimdienstarbeit entwickelt wurde. Nicht abgebildet ist das SO-3.2 – ein Biotartyp mit den Daten 2,8/50 mm.


Besondere Aufmerksamkeit verdient freilich das Objektiv rechts: Das Weitwinkelobjektiv SO-3.1 2,8/35 mm. Auch wenn es intern als "Flektogon" bezeichnet wurde, unterscheidet es sich ganz wesentlich von den bekannten Retrofokustypen. Diese würden bei Aufsetzen einer Vorderblende einfach ganz extrem vignettieren. Beim Sonderobjektiv SO-3.1 ist gerade dies nicht der Fall. Es handelt sich daher um eine ganz und gar bemerkenswerte Sonderkonstruktion, die von Eberhard Dietzsch am 15. Juli 1976 in der DDR zum Patent angemeldet worden ist [Nr. DD301.976].  Daß Dietzsch hier etwas ganz besonderes geschaffen hatte, läßt sich daran erkennen, daß das zugehörige Patent erst am 29. September 1994 [sic!] durch das Bundesdeutsche Patentamt veröffentlicht worden ist – nachdem das DDR Patentamt den Patentschutz bereits zum  28. August 1978 erteilt hatte. Damals unter Geheimhaltung natürlich.

DD301976 Dietzsch Sonderobjektiv SO35

Dieses "Fotografische Objektiv mit externer Pupille" ist deshalb so bemerkenswert, weil es bei einer großen relativen Öffnung von 1:2,8 ein großes Bildfeld von etwa 60 Grad (40 mm Bildkreis) unter Korrektur sämtlicher Bildfehler auszeichnet. Darüber hinaus vereinigt es gleichzeitig eine weit nach vorn verlegte Eintrittspupille, die den Einsatz einer Vorderblende ermöglicht, mit einer genügend großen Schnittweite, damit der Klappspiegel einer Kleinbildspiegelreflexkamera nicht anstößt

Sonderobjektiv 2,8/35mm

Die Bilder oben zeigen links die Front- und rechts die Rückansicht. Auffällig ist der große Durchmesser des hinteren Systemteils und der kleine Durchmesser des vorderen, der wie gesagt durch die nach vorn verlegte Pupille den Einsatz einer aufsteckbaren Aperturblende ermöglicht. Das eigentliche Ziel dieser Sonderbauform dürfte aber gewesen sein, trotz des großen Bildwinkels dieses Objektivs unter minimalster Vignettierung durch enge Öffnungen photographieren zu können – also zum Beispiel durch ein Schlüsselloch. Daß dabei (über einen M42-Adapter) eine normale Praktica verwendet und über deren Reflexsucher scharfgestellt werden konnte, ist das besonders Verblüffende an diesem Objektiv.

Wenn ich die Patentbeschreibung Dietzschs recht verstehe, dann liegt der eigentliche Kunstgriff, der all diese sich im Grunde genommen widersprechenden Eigenschaften dennoch zu vereinigen vermag, in der Formgebung des Luftzwischenraumes l1, der laut Patentschrift die Form eines sammelnden Meniskus aufweist und deshalb zerstreuend wirkt.* Das im Patent angegebene Ausführungsbeispiel in Tabelle 5, das wohl dem Serien-Objektiv zugrundeliegt und in und Figur 4 dargestellt ist, läßt zudem erkennen, daß für die Linsen fünf, sechs und sieben hochbrechendes Kronglas mit einem Brechungsindex von 1,7564 bei einer Abbezahl von 52,9 verwendet wurde. Dabei handelt es sich um das Schwerstkron SSK11, das radioaktives Thorium enthält und daher zu einer charakteristischen Vergilbung neigt. Bei den beiden mir zur Verfügung stehenden Exemplaren des SO 3.1 zeigen sich daher jeweils die typischen gelblichen Verfärbungen im hinteren Objektivteil, wie sie zwangsläufig nach längerer Dunkellagerung auftreten.


*Und weil mich ein Leser darauf hingewiesen hat, daß es widersprüchlich sei, wenn ein sammelnder Meniskus zerstreuend wirke, hier noch mal der genaue Wortlaut des Schutzanspruchs 1 des genannten Patentes DD301.976: "In Lichtrichtung vor dem Grundobjektiv wird eine konvergente Linsenkombination angeordnet, welche aus einem zum Objekt erhabenen streuenden Meniskus und einem nachfolgenden sammelnden meniskenförmigen Verbundglied, welches eine zum Objekt hohle, sammelnde Kittfläche enthält, besteht, wobei der die genannten Meniskenglieder trennende Luftraum die Form eines dünnen sammelnden Meniskus besitzt und somit streuend wirkt." Ich glaube dieser scheinbare Widerspruch läßt sich leicht aufklären. Dietzsch sagt ja, die Form des Meniskus sei sammelnd. Ein sammelnder Meniskus ist eine Linse, dessen beiden Linsenscheitel in ein und dieselbe Richtung gekrümmt sind und dessen Dicke in der Mitte größer ist als am Rand. So viel zur äußeren Gestalt. Die Wirkung kann jedoch, da es sich hierbei eben nicht um eine Linse aus Glas, sondern um eine zwischen zwei Gliedern befindliche Luftlinse handelt, trotzdem zerstreuend sein.

Jena Sonderobjektiv 2,8/35mm

Eberhard Dietzsch, der dieses spezielle Weitwinkelobjektiv bereits im November 1973 abgeschlossen hatte, bezeichnete es selbst übrigens P-Flektogon:


"Bei diesem Objektiv ist der ursprünglich die Flektogone charakterisierende große Luftraum zwischen einer frontseitigen Zerstreuungslinse und einem nachfolgenden Basisobjektiv zu einem dünnen Luftmeniskus verkümmert. Das Objektiv ähnelt somit mehr einem f-Θ-Objektiv [sprich f-Theta, MK] (Bild 25). Wegen der Vorderblende erfolgt naturgemäß keine winkelabhängige Vergrößerung der Eintrittspupille wie sie zumindest im vignettierungsfreien Fall den eigentlichen Flektogonen eigen ist. Nicht ganz gelingen konnte die Korrektur der Verzeichnung. Trotz einer verzeichnungsbehebenden zerstreuenden Kittfläche in der letzten Linse beträgt dieser immerhin noch -5%, was aber für photographische Zwecke zulässig ist." [aus: Dietzsch: Retrofokus, 2002, S. 123.]

Dietzsch P-Flektogon

Wir wollen hier lieber nicht weiter darüber nachdenken, welche Menschen wohl mit diesen Objektiven observiert wurden. Zur ewigen Schande, mit dem die DDR verbunden ist, gehört schließlich, daß der Geheimdienst nicht nur fremde Spione belauscht hat, sondern mit großem Aufwand gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurde. Und seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren das vor allem Bürger, die einfach nur ihr Menschenrecht auf Ausreise aus dem Staat wahrnehmen wollten und deshalb wie Verbrecher behandelt wurden.


Diese Politik rächte sich ohnehin im doppelten Sinne: Statt daß Photoobjektive für eine Konsumgüterproduktion auf Weltniveau geschaffen wurden, gelangten nur noch teure Geheimprojekte für das MfS in die Umsetzung. Dafür war in den 80er Jahren offenbar genügend Geld da. Mit der DDR-Photoindustrie ging es derweil steil bergab, was bis zum Untergang dieses Staates allein durch die nach wie vor großen Absatzzahlen der zum Schleuderpreis produzierten Prakticas verdeckt wurde. Die tatsächliche Lage der traditionsreichen mitteldeutschen Kamera- und Objektivbau-Betriebe wurde allen erst so richtig klar, als ab Sommer 1990 die jahrelange staatliche Subventionierung des Sektors wegfiel.

Geräuscharme Spiegelreflexkamera

An die GSK war auch eine Langfilmkassette und eine Datenrückwand ansetzbar, um beispielsweise die Uhrzeit einbelichten zu können. Auf diesem Bild sieht man auch die auf das Sonderobjektiv aufgesteckte Irisblende, falls bei viel Licht dessen Menge reduziert werden mußte. Aufnahme: Detlev Vreisleben

Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35
Zeiss Sonderobjektiv SO 2,8/35

Die Aufnahmen oben sind alle mit dem Zeiss Sonderobjektiv SO-3.1 2,8/35 mm bei voller Öffnung entstanden. Dafür, daß die Konstruktion eine derart kleine Frontlinse hat und die künstliche Vergrößerung der Eintrittspupille, wie sie Retrofokus-Konstruktionen normalerweise mit sich bringen, hier nicht vorhanden war, ist die Vignettierung sehr gering. Nur die Verzeichnung ist stark tonnenförmig, was aber angesichts des vorgesehenen Einsatzzweckes eine untergeordnete Rolle gespielt hat.

Marco Kröger 2020


letzte Änderung: 24. August 2024